Organoide Intelligenz – Revolutionäre Computer, die von menschlichen Gehirnzellen angetrieben werden
Wissenschaftler stehen kurz davor, einen revolutionären Weg zur Weiterentwicklung der Computertechnik aufzuzeigen. Es wird „Organoid Intelligence“ (OI) genannt, bei dem im Labor gezüchtete Gehirnorganoide als biologische Hardware fungieren würden.
Künstliche Intelligenz ist seit langem vom menschlichen Gehirn inspiriert. Dieser Ansatz hat sich als sehr erfolgreich erwiesen. KI kann beeindruckende Erfolge vorweisen – von der Diagnose von Erkrankungen bis zum Schreiben von Gedichten. Dennoch übertrifft das Originalmodell die Maschinen in vielerlei Hinsicht. So können wir zum Beispiel mit trivialen Bildtests online „unsere Menschlichkeit beweisen“. Anstatt zu versuchen, das menschliche Gehirn zu simulieren, gingen die Wissenschaftler direkt zur Quelle.
Viele Disziplinen arbeiten an der Entwicklung revolutionärer Biocomputer, bei denen 3D-Kulturen von Gehirnzellen, sogenannte Gehirnorganoide, als biologische Hardware dienen. Ihren Plan zur Verwirklichung dieser Vision veröffentlichten sie in der Zeitschrift Frontiers in Science.
„Wir nennen dieses neue interdisziplinäre Feld ‚organoide Intelligenz‘ (OI)“, sagte Professor Thomas Hartung von der Johns Hopkins University. „Eine Gemeinschaft von Spitzenwissenschaftlern hat sich zusammengeschlossen, um diese Technologie zu entwickeln, von der wir glauben, dass sie eine neue Ära des schnellen, leistungsstarken und effizienten Biocomputing einläuten wird.“
Was sind Gehirnorganoide und warum können sie so gute Computer sein?
Gehirnorganoide sind eine besondere Art von im Labor gezüchteten Zellkulturen. Obwohl Organoide des Gehirns nicht als „Mini-Gehirne“ klassifiziert werden, weisen sie dennoch wichtige Aspekte der Gehirnfunktion und -struktur auf, etwa Neuronen und andere Gehirnzellen, die für die kognitiven Funktionen Lernen und Gedächtnis unerlässlich sind. Warum sind sie so besonders? Die meisten Zellkulturen haben eine flache Struktur, Organoide sind jedoch dreidimensional, was ihre Zelldichte um das Tausendfache erhöht. Dadurch können Neuronen viel mehr Verbindungen eingehen.
Aber selbst wenn Gehirnorganoide gute Nachbildungen des Gehirns sind, warum sollten sie dann gute Computer sein? Sind Computer nicht schließlich intelligenter und schneller als Gehirne?
„Während auf Silizium basierende Computer sicherlich besser im Rechnen sind, sind Gehirne besser im Lernen“, erklärte Hartung. „Zum Beispiel wurde AlphaGo [die KI, die 2017 den weltbesten Go-Spieler besiegte] anhand von Daten aus 160.000 Spielen trainiert. Um die gleiche Anzahl an Spielen zu absolvieren, müsste ein Mensch über 175 Jahre lang fünf Stunden am Tag spielen.“
Das Gehirn lernt nicht nur besser, es ist auch energieeffizienter. Beispielsweise ist die Energiemenge, die für das Training von AlphaGo aufgewendet wird, größer als die, die erforderlich ist, um einen aktiven Erwachsenen ein Jahrzehnt lang „aufrechtzuerhalten“.
„Das Gehirn verfügt außerdem über eine unglaubliche Kapazität zum Speichern von Informationen, die auf 2.500 TB geschätzt wird“, fügte Hartung hinzu. „Wir stoßen an die physikalischen Grenzen von Siliziumcomputern, weil wir nicht mehr Transistoren auf einem kleinen Chip unterbringen können. Aber das Gehirn ist völlig anders aufgebaut. Es verfügt über etwa 100 Milliarden Neuronen, die über mehr als 1015 Verbindungspunkte verbunden sind. Das ist ein gewaltiger Leistungsunterschied im Vergleich zu unserer aktuellen Technologie.“
Wie würden Biocomputer mit organoider Intelligenz aussehen?
Laut Hartung müssen aktuelle Gehirnorganoide vergrößert werden, damit sie als organoide Intelligenz dienen können. „Sie sind zu klein, jede enthält etwa 50.000 Zellen. „Wir sollten diese Zahl für die OI auf 10 Millionen erhöhen“, erklärte er.
Parallel dazu entwickeln Forscher Technologien zur Kommunikation mit Organoiden. Vereinfacht ausgedrückt entwickeln sie eine Technologie zum Senden von Informationen und zum Lesen von Daten, anhand derer sie erkennen können, was die Organoide „denken“. Sie helfen sich gegenseitig mit Werkzeugen aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und passen diese für ihre Zwecke an, beispielsweise Bioingenieurwesen und maschinelles Lernen. Dadurch können sie neue Stimulations- und Aufzeichnungsgeräte entwickeln.
„Wir haben ein Gerät entwickelt, das als Schnittstelle zwischen Gehirn und Computer fungiert. Dabei handelt es sich um eine Art EEG-Haube für Organoide, die wir in einem im August letzten Jahres veröffentlichten Artikel vorgestellt haben. „Es handelt sich um eine flexible Hülle, die dicht mit winzigen Elektroden bedeckt ist, die Signale vom Organoid aufnehmen und an ihn weiterleiten können“, sagt Hartung.
Das Forscherteam stellt sich vor, dass OI schließlich eine Vielzahl von Stimulations- und Aufzeichnungstools einbezieht. Diese werden Interaktionen in Netzwerken miteinander verbundener Organoide orchestrieren, die komplexere Rechenaufgaben ausführen würden.
Organoide Intelligenz könnte helfen, neurologische Erkrankungen zu verhindern und zu behandeln
Das Potenzial der organoiden Intelligenz geht über das Rechnen selbst hinaus. Das Gesundheitswesen ist ein Bereich, der am meisten von neuen Technologien profitieren könnte. Die Nobelpreisträger John Gurdon und Shinya Yamanaka haben eine bahnbrechende Technik entwickelt, die es möglich macht, Gehirnorganoide aus erwachsenem menschlichem Gewebe herzustellen. Dies bedeutet, dass Wissenschaftler aus Hautproben von Patienten mit neurologischen Erkrankungen wie der Alzheimer-Krankheit maßgeschneiderte Gehirnorganoide entwickeln können. Anschließend können sie testen, wie sich genetische Faktoren, Medikamente und Toxine auf neurologische Störungen auswirken.
„Auch kognitive Aspekte neurologischer Erkrankungen könnten mit OI untersucht werden“, sagte Hartung. „Wir könnten zum Beispiel die Gedächtnisbildung in Organoiden von gesunden Menschen und Alzheimer-Patienten vergleichen und versuchen, relative Defizite zu korrigieren.“ Mit OI könnte auch getestet werden, ob bestimmte Substanzen, etwa Pestizide, Gedächtnis- oder Lernprobleme verursachen.“
Ethik und moralische Prinzipien
Die Schaffung menschlicher Gehirnorganoide, die lernen, sich erinnern und mit ihrer Umgebung interagieren können, wirft komplexe ethische Fragen auf. Könnten wir beispielsweise Bewusstsein auch nur in einer Grundform entwickeln? Können sie Schmerz oder Leid empfinden? Und welche Rechte hätten Menschen an Gehirnorganoiden, die aus ihren eigenen Zellen hergestellt wurden?
Forscher sind sich bewusst, dass ihre Arbeit viele ethische Fragen aufwirft. „Ein wesentlicher Teil unserer Vision besteht darin, OI auf ethische und sozial verantwortliche Weise zu entwickeln“, sagte Hartung. „Deshalb haben wir von Anfang an mit Ethikern zusammengearbeitet, um einen ‚Embedded Ethics‘-Ansatz zu etablieren. Alle ethischen Fragen werden kontinuierlich von Teams aus Wissenschaftlern, Ethikern und der Öffentlichkeit bewertet.“
Wie weit sind wir von der ersten organoiden Intelligenz entfernt?
OI steckt noch in den Kinderschuhen. Eine kürzlich veröffentlichte Studie des Forschers Dr. Aber Brett Kagan von Cortical Labs beweist, dass das Konzept funktioniert. Sein Team zeigte, dass eine normale, flache Zellkultur lernen kann, das Videospiel Pong zu spielen.
„Sein Team testet dies bereits mit Gehirnorganoiden“, bestätigt Hartung. „Ich würde sagen, dass die Wiederholung dieses Experiments mit Organoiden bereits die grundlegende Definition von OI erfüllt. Von hier aus geht es nur noch darum, Gemeinschaften, Werkzeuge und Technologien aufzubauen, um das volle Potenzial der organoiden Intelligenz auszuschöpfen.“